Frohe Kunde, Leser: Ich habe den Roman "Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau" zu Ende gelesen, damit ihr es nicht müsst! Nachdem ich vor mehr als neun Jahren (!) mit der Lektüre dieses ausufernden Fortsetzungsromans begonnen hatte, hatte ich zwischenzeitlich schon Zweifel, ob ich das Ende jemals erreichen würde. Was ich damals aber auch nicht geahnt habe, war, dass der Autor 74 Kapitel und fast 1200 Druckseiten füllen würde, bevor die Romanhandlung an einen Punkt gelangte, an dem man sie sinnvoll mit den bekannten Fakten über den realen Fall der Barbara Ubryk abgleichen kann. Immerhin, diesen Punkt haben wir jetzt erreicht. –
Erinnern wir uns, dass der Verfasser am Ende des LXXIV. Kapitels angekündigt hatte, die letzten beiden Kapitel des Romans – wenn man das Nachwort nicht mitrechnet – würden sich auf die amtlichen Untersuchungsakten zum Fall Barbara Ubryk stützen. Auf die Frage "Glauben wir dem das?" habe ich eine Antwort, die den geneigten Leser vielleicht überraschen wird: Für bare Münze nehmen sollte man diese Behauptung sicherlich nicht, aber ein Körnchen Wahrheit steckt wohl doch darin. Konkret gesagt glaube ich nicht, dass der Verfasser persönlich Einblick in irgendwelche amtlichen Untersuchungsakten hatte, sehr wohl jedoch, dass die letzten Kapitel erheblich mehr authentische Fakten zum Fall Barbara Ubryk enthalten als die gesamte bisherige Romanhandlung. Warum? Einfach deshalb, weil die Fakten über die Auffindung Barbara Ubryks, die dabei festgestellten Umstände ihrer Gefangenschaft (wie etwa Größe, Ausstattung und Zustand ihrer Zelle) sowie die Ergebnisse der anschließenden ärztlichen Untersuchung durch die internationale Presse gegangen waren und somit auch den Lesern des Romans theoretisch bereits bekannt sein konnten; der Autor musste also einerseits bestrebt sein, diesen Fakten Rechnung zu tragen, andererseits aber auch, sie nach Möglichkeit mit dem ganzen ausgedachten Quatsch in Einklang zu bringen, den er seinen Lesern bisher aufgetischt hat, und zugleich zu suggerieren, er wisse mehr als das, was schon in der Zeitung stand, denn was wäre das sonst für ein Enthüllungsroman?
Das LXXV. Kapitel, "In pace, oder: was der unterirdische Gang erzählt" (im Inhaltsverzeichnis ist die Kapitelüberschrift hingegen mit "In pace, der Klosterkerker" angegeben), kann indes eher wenig Anspruch auf Authentizität erheben: Die Handlung knüpft unmittelbar an die Schilderung der missglückten Flucht Jovitas im vorangegangenen Kapitel an, man erfährt, infolge der "Geschwätzigkeit der Schusterwirthin Frau Halman" habe "nicht nur die Stadt Krakau von der mißglückten Flucht einer Carmeliter=Nonne" erfahren, "sondern auch das bischöfliche Generalvikariat, und zwar noch denselben Vormittag" (S. 1199). Es heißt, die lokale Presse – namentlich die "zwei Blätter 'Czas' und 'Craj'" – hätten "damals nur flüchtig" über den Fall berichtet: "Niemand wußte, wer die Nonne gewesen, wie sie geheißen habe, und so verstummte das Gerede über diesen Vorfall wieder sehr bald" (ebd.). – Belege dafür vorzulegen, dass die genannten Zeitungen damals überhaupt über einen solchen Fall berichtet haben, dürfte dem Autor indes schwer fallen, zumal die Zeitung "Czas" (d.h. "Zeit"), wie man aus Meyers Großem Konversations-Lexikon von 1906 erfahren kann, erst ab November 1848 erschien, der besagte Fluchtversuch jedoch bereits "am 25. Mai 1848" stattgefunden haben soll (S. 1201); die Zeitung "Kraj" (d.h. "Land") wurde sogar erst 1869 von Adam Sapieha begründet. Einen Hinweis darauf, dass die Fluchtversuchs-Geschichte dennoch einen wahren Kern haben könnte, habe ich allerdings im Pfälzer Boten vom 4. August 1869 gefunden, in dem es unter Berufung auf die Wiener "Presse" heißt:
"Thatsache jedoch ist, daß im Jahre 1848 aus dem Kloster der Carmeliterinnen in Krakau eine Nonne flüchten wollte. Ob diese Nonne und Barbara Ubryk identisch sind? Höchst wahrscheinlich."
Was dieser Artikel an Gerüchten über die Vorgeschichte dieses Fluchtversuchs mitteilt, ist indes wiederum eine ganz andere Geschichte als die, die in Dr. Rodes Roman erzählt wird; aber dazu vielleicht an anderer Stelle mehr. Entscheidend ist zunächst einmal, dass der "bischöfliche Generalvikar" von der Sache Wind bekommt und "sofort die Einleitung einer Untersuchung und die vorläufige Einsperrung der Nonne 'wegen Bruches der Clausur'" anordnet (S. 1200). Um einer solchen Untersuchung seitens des Bistums zuvorzukommen, die, "wenn sie eingeleitet wurde allerhand Dinge zu Tage fördern" würde, "welche auf das ganze Kloster das schlimmste Licht warfen" (ebd.), beschließen die Priorin des Klosters und der Beichtvater, "über das Schicksal Jovitas endgiltig zu entscheiden" (ebd.). Dies soll "in einem großen Capitel" geschehen – wozu ausgeführt wird:
"Die Klöster haben ihre eigene Jurisdiktion, nach welcher sie richten, urtheilen und vollstrecken, und welche unter dem gewöhnlichen Schutze von Concordaten weder vom Staate noch von Bischöfen angetastet werden darf. Sie bilden so recht einen Staat im Staate, eine Republik in der Monarchie" (ebd.).
Höchst fatal! Ganz nebenbei wird noch der eigentlich gar nicht zur Sache gehörende Hinweis eingestreut, vom Beichtvater Pater Hyginus werde "in gewissen Kreisen Krakau's nicht mit Unrecht vermuthet, daß er der leibliche Sohn der ehrwürdigen Mutter Tharsilla, aus einer geistlichen Ehe entsprungen, gewesen sein soll" (ebd.); viel interessanter ist aber allemal der "Capitelbeschluß des Convents der barfüßigen Carmeliterinnen zu St. Mariä Heimsuchung", den der Autor als ein authentisches Dokument ausgibt; wäre dies tatsächlich der Fall, dann dürfte man aber wohl erwarten, dass dieses in der gerichtlichen Untersuchung zum Fall Barbara Ubryk eine Rolle gespielt haben würde. In diesem Beschluss wird "Jovita de Angelis von Ubryk" unter anderem für schuldig befunden, "unsittliche Handlungen begangen zu haben", "[d]er Taufgnade abgeschworen und sich dem Teufel ergeben zu haben" (ebd.), "[u]nwürdig communicirt, Sakrilegien und Gotteslästerungen begangen zu haben" (S. 1201) und ihre Gelübde gebrochen zu haben, insbesondere "das Gelübde der Keuschheit durch ein Liebesverhältniß mit dem Ordensnovizen Woicech Zarski" (ebd.). Für diese und andere Vergehen wird Barbara alias Jovita dazu verurteilt,
"I. [d]rei Tage Kirchenbuße zu thun;
II. hierauf von allen Schwestern gestäupt, des Ordenskleides und der geistlichen Würde beraubt;
III. für todt erklärt und aus den Listen des Ordens gestrichen,
IV. der heil. Messe und Communion verlustig, und endlich
V. ewig eingesperrt zu werden" (ebd.).
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| Vinzenz Katzler: Die eingemauerte Nonne (1868). Gemeinfrei. |
Erfolgt die Einkerkerung hier also aufgrund eines förmlichen Beschlusses, der "die Unterschriften sämmtlicher Schwestern" trägt (ebd.), so liest man in dem Pamphlet "The Convent Horror", der vorgeblich Barbaras eigenen Bericht über ihre Gefangenschaft enthält, ganz Anderes: Hier wird Barbara unter dem Vorwand, zur Buße für ihren Ungehorsam Küchenarbeit verrichten zu sollen, von der Oberin des Klosters in den Keller gelockt und dort heimtückisch eingesperrt.
Auf "The Convent Horror" werden wir noch ein paarmal zurückkommen müssen; bleiben wir aber zunächst noch bei Dr. Rodes "Barbara Ubryk"-Roman – und halten fest, was der Verfasser hier zum "Verwurf der Unzucht" anmerkt; diesen, so meint er nämlich, "hätten [...] die frommen Ordensfrauen besser unterlassen" (S. 1201):
"Ja, es ist wahr und man weiß es, daß sich die Nonnen geheimen Sünden hingeben, daß es in den Klöstern Sünden gibt, von denen die 'verworfene' Welt Gott sei Dank nichts weiß, Sünden, welche die raffinirtesten sexuellen Genüsse bilden, Sünden, welche ohne die Klöster nicht existiren würden!!!" (ebd.).
Da sind wir argumentativ ganz auf dem Niveau von "Der Zölibat ist schuld am Missbrauch", und noch deutlicher wird die Parallele zum gegenwärtigen Diskurs über die "kirchliche Sexualmoral", wenn es gleich darauf heißt: "Allein wenn Barbara in einer schwachen Stunde fiel: wir haben darüber nicht zu rechten" (ebd.). – Klar: Der Einzelne hat keine Schuld, ist vielmehr selbst ein Opfer; Schuld hat das System. Aber lassen wir das lieber mal beiseite.
Interessant ist, dass laut Dr. Rodes Darstellung eine bischöfliche Visitation des Klosters ausgesprochen resolut verhindert wird, indem "der von dem bischöflichen Generalvikariate abgeordnete Visitator in der Person des Domcapitularen Bomell [...] trotz der bischöflichen Vollmacht nicht zur Visitation zugelassen" wird:
"Der Bischof, erklärte ihm die Priorin, habe kein Recht, sich in ihre Klosterangelegenheiten zu mischen, nur der General des Ordens könne eine außerordentliche Visitation verfügen. Die Beichtväter hätten erklärt, sie würden bei bischöflicher Intervention keine Messen in der Kirche mehr lesen, überhaupt keine geistlichen Verrichtungen im Kloster mehr besorgen, weil sich Priorin und Convent fremder Sünden theilhaftig machen würden. Daraufhin zog Bomell ab und der Bischof untersagte die Visitation, sowie die Einleitung einer Untersuchung" (S. 1202).
Nur der Vollständigkeit halber sei daran erinnert, dass sich diese Vorgänge im Mai 1848 zugetragen haben sollen; der damalige Bischof von Krakau, Karol Skórkowski, hatte allerdings schon 1835 auf Druck Russlands seine Diözese verlassen müssen, lebte im Exil im schlesischen Troppau und wurde durch den Apostolischen Administrator Ludwik Łętowski vertreten. Na ja: Details. Im weiteren Verlauf des Kapitels wird ausgiebig die zeremonielle Auspeitschung Barbaras und schließlich ihre Einkerkerung geschildert:
"Requiescat in pace! hatten die Nonnen im Weggehen gesprochen. Man muß die Ausdrucksweise der Klöster kennen, um den tiefen Hohn zu verstehen, der in diesen Worten liegt. Requiescat heißt: 'sie ruhe' und in pace 'im Frieden'. In der klösterlichen Sprache heißen aber auch die Kerker 'in pace', um anzudeuten, daß das von ihnen aufgenommene unglückliche Wesen dort in friedlicher Grabesnacht ruhe. Dieser Doppelsinn galt diesmal unter der Form eines frommen Spruches dem schrecklichen Schicksale Jovita's: 'Sie ruhe – im Kerker!'" (S. 1206).
Über den unterirdischen Kerker, in den Barbara gesperrt wird, heißt es, dieser messe "3 Schritte in die Breite und 5 in die Länge" (S. 1206); vergleicht man dies mit der "Convent Horror"-Broschüre, die die Maße von Barbaras Verlies schon im Titel als "Eight Feet Long, Six Feet Wide" angegeben werden, kommt man zu dem Schluss, dass man eine Schrittlänge zwischen 48 und 60 cm voraussetzen müsste, um diese beiden Angaben miteinander in Einklang zu bringen. Anders ausgedrückt: Da ein erwachsener Mensch normalerweise eher größere Schritte macht, bedeutet das, dass Dr. Rode seiner Barbara sogar mehr Platz in ihrem Kerker zugesteht als das Convent Horror-Pamphlet; umso mehr, als er angibt, die Zelle sei im Verhältnis zu ihrer Enge "ziemlich hoch" (S. 1206), wohingegen sie in The Convent Horror als "an inch or two over six feet high" beschrieben wird – "By leaping up with all my strength, I could sometimes touch the ceiling with my fingers". In den über Google Books zugänglichen zeitgenössischen Presseberichten, von denen hier im Folgenden noch mehrfach die Rede sein wird, habe ich keine präzisen Angaben zu den Abmessungen der Kerkerzelle gefunden; einig sind sich die verschiedenen Berichte indes darin, dass die Zelle sich in unmittelbarer Nähe einer "Cloake" befand: Dies berichteten u.a. das Innsbrucker Tagblatt vom 27. Juli 1869, das Trautenauer Wochenblatt vom 1. August 1869 und der Pfälzer Bote vom 4. August 1869. In The Convent Horror heißt es, der Abtritt in Barbaras Zelle – "a sort of privy seat" – sei direkt mit dem "general cesspool or sink of the Convent" verbunden gewesen: "I was convinced of this from the frightful smell that came up out of it". Nun wäre Dr. Rode aber wohl nicht er selber, wenn er diesen Umstand nicht breiter und lustvoller ausgemalt hätte. So hebt er den "Umstand, daß unmittelbar durch den Kerker die Kloake des Klosters geht" (S. 1207f.), als bezeichnend für "den alle Begriffe der Gemeinheit überbietenden, boshaften und verächtlichen Sinn der dortigen Carmeliternonnen" (ebd.) hervor und führt aus:
"Es gibt noch zwei Kerkerlöcher in diesem Kloster; aber man wählte absichtlich dieses, weil man einerseits die unglückliche Nonne durch das Geräusch, welches bei gewissen Verrichtungen entstand, verhöhnen , andererseits aber sie durch die furchtbaren Ausdünstungen vergiften, hinrichten wollte. Man steckte sie nicht direkt in die Düngergrube, aber das einzige Fenster, welches um die Mittagszeit, und dann nur an schönen Sommertagen dem Lichte einigen Zutritt gewährte, ging in diese Kloake hinaus, so daß Barbara während dieser schrecklich langen Jahre so viel wie inmitten einer Düngergrube saß" (S. 1208).
Zusammenfassend heißt es:
"Das ist der Kerker Barbara's, ein kahles, nacktes Gewölbe, dumpf, dunstig, feucht und kalt. Der Modergeruch ertödtet nach sünf Minuten das Organ des Geruches und des Geschmackes, die Kälte ist fast eisig und bringt die Zähne zum Klappern. Das Auge muß sich erst allmählig an die im Kerker herrschende Dunkelheit gewöhnen. Eine Art Dämmerlicht erfüllt den schrecklichen unheimlichen Raum, die Wände sind feucht und glänzen in schlüpfrigem Silber.
Kein Gegenstand der Bequemlichkeit findet sich in ihm. In einem Winkel gegenüber der Thüre, gerade an der Cloake, liegt ein Bund Stroh. Das war Barbara's Lager" (ebd.).
Dass Barbara nackt in ihrer Zelle aufgefunden wurde, wird dadurch erklärt, dass sie das "Bußhemd, welches sie in den Kerker mitgebracht, [...] in der ersten Verzweiflung zerrissen" habe und danach keine neue Kleidung mehr bekam (S. 1209); in The Convent Horror heißt es hingegen, dass Barbaras Kleidung ihr im Laufe der ersten zehn Jahre ihrer Gefangenschaft infolge von Abnutzung und Verschmutzung in Lumpen vom Leibe fällt. Weiterhin liest man bei Dr. Rode, in der Anfangszeit ihrer Gefangenschaft habe Barbara "nur von drei zu drei Tagen Wasser und Brod" erhalten, und zwar durch ein "an der Kerkerthüre unten" angebrachtes "Schubloch" (S. 1208): "Niemals konnte sie sehen, welche Schwester sie brachte; niemals sprach die Schwester ein Wort" (S. 1209). Erst nach einigen Jahren, unter einer neuen Priorin (dazu in Kürze mehr), "erhielt Barbara jeden andern Tag auch ein warmes Essen in einem Napfe. Wenn dieses auch nur aus eingerührtem Brode, Kartoffeln oder Wassersuppe bestand, so war es immerhin eine sehr große Wohlthat, und nur diesem Umstande dürfte es zuzuschreiben sein, daß Barbara ihre Existenz so lange fristen konnte" (S. 1209). – Von einer "verschiebbare[n] Oeffnung" in der Tür, "durch welche wahrscheinlich Speisen verabreicht wurden", ist auch in den bereits zitierten Berichten des Innsbrucker Tagblatts und des Trautenauer Wochenblatts die Rede, nicht jedoch im Convent Horror, wo der Beichtvater Fr. Calenski Barbara nach zweitägiger Gefangenschaft erstmals Wasser und Brot bringt und ihr ankündigt "that I would be fed every forty-eight hours for the rest of my life"; und hier ist ausdrücklich die Rede davon, dass die Tür der Zelle geöffnet wird, wenn Barbara Essen erhält.
Wie oben bereits angedeutet, gibt Dr. Rode an, die Bedingungen von Barbaras Gefangenschaft hätten sich – wenigstens was die Verpflegung betraf – leicht gebessert, nachdem "einige Jahre darauf die alte Priorin Tharsilla endlich zum Satan heimgegangen war" (S. 1209); zunächst "trat ihre Favoritin Cäcilia an ihre Stelle; allein auch diese endete bald darauf. Dank den Drohungen, Einschüchterungen und allen gebräuchlichen Wahlmanövers des Pater Hyginus wurde dann eine jüngere Nonne zur Priorin gewählt, Fräulein Martha Wenzyk, welche dem Kloster noch jetzt vorsteht" (ebd.). Hierzu sei angemerkt, dass ein Bericht des Regensburger Morgenblattes vom 31. Juli 1869 den Namen der zu diesem Zeitpunkt amtierenden Oberin des Krakauer Karmeliterinnenklosters als "Maria Freiin v. Wenzyk, Tochter des verstorbenen polnischen Castellans Franz v. Wenzyk" angegeben wird; weiterhin erfährt man dort, dass sie 37 Jahre alt sei (womit sie zum Zeitpunkt der Einkerkerung Barbara Ubryks ein 16jähriges Mädchen gewesen sein müsste) und das Amt der Oberin seit vier Jahren ausübe. Als ihre Vorgängerin wird hier eine Therese v. Kosterkiewicz genannt, "eine starke Sechzigerin, welche das Amt einer Oberin in dem erwähnten Kloster schon mehrere Male bekleidete". Im Convent Horror ist Mutter Josepha während der gesamten Zeit von Barbaras Gefangenschaft die Oberin des Klosters. Wir können als vorläufigen Gesamteindruck festhalten, dass dieses in Amerika erschienene Pamphlet noch erheblich weniger Übereinstimmungen mit zeitgenössischen Presseberichten zum Fall Barbara Ubryk aufweist als Dr. Rodes Roman.
– Und was ist mit dem Beichtvater? Dr. Rode schreibt:
"Anfänglich besuchte der Beichtvater P. Hyginus die Gefangene im Kerker. An und für sich zeigte es von großer Unverschämtheit, daß er sich zu einer nackten Frauensperson begab; und wenn er das zu thun vor den Nonnen keinen Austand nahm, so dürfte sich auch noch manches Andere im finstern Kerker zugetragen haben. Ja wir werden uns kaum irren, wenn wir manche unsittliche Aeußerungen Barbaras auf den Beichtvater zurückführen" (S. 1210)
– der letzte Satz ist im Grunde ein Vorgriff auf die Untersuchungen von Barbaras Geisteszustand nach ihrer Befreiung, denn offenbar gab sie zuweilen recht unflätige Ausdrücke von sich, und es wurde seinerzeit viel darüber spekuliert, woher eine Nonne überhaupt einen solchen Wortschatz haben könne (vgl. z.B. den Fränkischen Kurier vom 22. August 1869). Es wird aber noch interessanter:
"Eben so verdächtig als auffällig ist der Umstand, daß zwei Tage nach der Entdeckung Barbaras Pater Hyginus, ohne vorher krank gewesen zu sein, eines raschen Todes starb – am 24. Juli 1869. Wir wollen nicht geradezu behaupten, daß er nach altem klösterlichem Gebrauche gestorben wurde , damit er als der Hauptschuldige der Untersuchung entgehe und dieser somit die Spitze abgebrochen werde; aber wir wissen, daß er etwas zu rasch gestorben ist" (ebd.).
Im Convent Horror heißt es ganz direkt, der Beichtvater Fr. Calenski habe nach der Auffindung und Befreiung Barbara Ubryks Selbstmord begangen; tatsächlich findet sich auch im Fränkischen Kurier vom 4. August 1869 ein ominöser Hinweis auf einen Karmeliterpater, der "so rasch gestorben" sei, dessen Name allerdings Peter Lewkowicz war und dessen Bruder Joseph, ebenfalls Pater, in einem Leserbrief an die schon erwähnte Krakauer Zeitung "Kraj" mitgeteilt habe, "sein Bruder sei natürlichen Todes gestorben nach mehrwöchentlichem Leiden". Der Fränkische Kurier orakelt: "Sei er nun so oder so gestorben, immerhin ist einer der bedeutendsten Zeugen in der Krakauer Klosteraffaire vom Schauplatze verschwunden". Im Pfälzer Boten vom selben Tag heißt es, dass Pater Lewkowicz "als früherer Beichtvater der Carmeliterinnen die Klosterskandale kannte, den Nonnen trotzdem die Absolution ertheilte und vor Zeugen sich hierüber aussprach"; eine "Gerichtskommission" sei ausgesandt worden, um seinen plötzlichen Tod zu untersuchen. Wie das Wiener Wochenblatt "Der Freimütige" am 5. August berichtete, sei die "beabsichtigte Ausgrabung und Secirung" des Verstorbenen dann aber "unterlassen" worden, "weil sich herausgestellt haben soll, dass dieser geistliche Herr seit längerer Zeit dem Trunke ergeben war und deshalb kränkelte". Offensichtlich kursierten jedoch weiterhin Gerüchte, Pater Lewkowicz sei vergiftet worden, und zwar als Strafe dafür, dass er einem Pfarrer in Trzebinia von der eingekerkerten Nonne in Krakau erzählt und damit die Kette der Ereignisse in Gang gesetzt habe, die zur Aufdeckung des ganzen Skandals geführt habe.
Man sieht, die in der zeitgenössischen Presse dokumentierten Fakten des Falls Ubryk sowie die Gerüchte, die sich an diese Fakten anlagerten, hätten eigentlich schon Stoff genug für einen Roman abgegeben, ohne dass man sich so eine wirre, ausufernde und überhaupt nicht zu diesen Fakten passende Vorgeschichte aus den Fingern hätte saugen müssen. Aber dazu hätte man eben zuerst einmal recherchieren müssen, ehe man die ersten Folgen des Fortsetzungsromans hätte auf den Markt werfen können, und aus der Sicht des Verlags war es offenbar wichtiger, das öffentliche Interesse an dem Fall auszuschlachten, solange es auf dem Siedepunkt war. Obendrein scheint es, dass sich das Interesse des Autors daran, sich mit den authentischen Fakten des Falles auseinanderzusetzen, bis zuletzt eher in Grenzen hält; lieber füllt er gegen Ende des LXXV. Kapitels nochmals rund zwei Seiten mit allgemeiner Polemik gegen das Klosterwesen, die er in die Form rhetorischer Fragen kleidet. Auf S. 1213 schließlich starrt den Leser in riesengroßen Lettern die Zeile
! – 21 Jahre – !
an, darunter steht, in kleinerer Schrift: "Entsetzlich!". Ehe wir uns dem LXXVI. Kapitel, schlicht "Barbara Ubryk. (Schluß.)" betitelt, zuwenden, möchte ich in der nächsten Folge dieser Artikelserie aber lieber mal den VII. Band von Sir John Retcliffes "Biarritz" untersuchen; das ist erheblich abwechslungsreicher und verspricht mehr Action.













































